Teil 3. Die Tübinger Replica
Die mit großem Aufwand und mit großer Geduld gebaute, erste Rekonstruktion der schickard'schen Rechenmachine ist eine sehr sorgfältige und aufwändige Ausführung. Mehrere Firmen waren beteiligt, von einer Feinmechanikerschule über Hochschullehrer bis zum Schreinermeister. In Größe, Präzision und Feinheit im Detail übertrifft sie wahrscheinlich das Original, und sie ist das Vorbild für alle späteren Nachbauten.
Tübinger Replica
"Mutter" aller Nachbauten. |
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(1) Einstellknöpfe für die senkrecht angeordneten Napier-Walzen (drehbare Multiplikationstabellen)
(2) Schieber zum Ablesen der Teilergebnisse der Multiplikation
(3) Einstellknöpfe des dahinter befindlichen Addierwerkes
(4) Einstellknöpfe des einfachen Speicherwerks (von Hand einstellbare Zahlenscheiben)
(5) Einstellstift, der in das oberste Loch von (3) gesteckt wird und zum Addieren bzw. Subtrahieren auf die betreffende Ziffer der dahinterliegenden Platte gedreht wird (7)
(6) Schaulöcher des Additionswerkes. Ähnliche Schaulöcher befinden sich auf den Schiebern (2) und unterhalb der Einstellknöpfe (4)
(7) Kaum sichtbar: Ziffern auf der Platte der Einstellknöpfe
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Die tübinger Replica ist ziemlich groß: 55 cm breit, 58 cm hoch und 37 cm tief. Ein Zahnrad besitzt einen (geschätzten) Durchmesser von 5 bis 5,5 cm! Andere Nachbauten fallen wesentlich kleiner aus, was letztlich durch die zur Verfügung stehenden Zahnräder bedingt ist. Für die tübinger Replica wurden eigens Zahnräder angefertigt, was sich ein Hobbybastler nicht leisten kann.
Im Additionswerk befinden sich 11 Achsen, die man waagerecht nebeneinander oder im 90°-Winkel zickzackförmig versetzt anordnen kann. Daraus ergibt sich die Breite des Additionswerkes als Folge der Zahnradgröße und der Achsanordnung. Andere Replicas, die aus neueren Rechenmaschinen ausgebaute Zahnrädern von 17-20 mm Durchmesser verwenden, werden somit maximal 20 bis 27 cm breit und 27 bis 35 cm hoch sein - man beachte den Größenunterschied!
Ich möchte hier und auf den folgenden Seiten weniger auf das Multiplikationswerk mit dem Napier'schen System eingehen. Dies ist in der Literatur und auch im Internet hinlänglich beschrieben. Die Rechenstäbe waren damals bereits bekannt. Die Abwandlung zur drehbaren Walze, wie Schickard sie einbaute, war zwar neu, jedoch nicht mehr als eine Erleichterung in der Handhabung. Wirklich neu und genial war hingegen das Additionswerk, in das die Teilschritte der Multiplikation fortlaufend auf einfachste Weise übertragen wurden. Die Multiplikation mehrstelliger Zahlen (und mit etwas mehr Aufwand auch die Division) konnte somit ohne Notizen, ohne Kopfrechnen und zügig durchgeführt werden (siehe vor allem diese Anleitung). Bis zur schickard'schen Rechenuhr war keine Additionsmaschine bekannt, die einen automatischen Zehnerübertrag zustande brachte. Und schon gar nicht in beide Drehrichtungen der Einstellung, also für Addition und Subtraktion. Zur Funktionsweise vertiefe man sich in die nachfolgenden Abbildungen und das Video (oben) auf dieser Seite. Ernsthaft Interessierte werden ohnehin das in Tübingen herausgegebene Heft von Baron von Freytag besitzen. Die vollständige Funktion und die kritischen Stellen erschließen sich jedoch erst dann vollständig, wenn man das Rechenwerk in Aktion beobachten kann.
Die Replica, die in Jahre langer Arbeit in Tübingen entstand, beweist, dass Schickard's Rechenmaschine funktionierte. Dennoch bleibt der tatsächliche Aufbau des Additionswerkes etwas im Dunkeln, und das tübinger Additionswerk scheint nur eine von mehreren möglichen Varianten zu sein.
Folgende Überlegungen entstanden bei sorgfältiger Betrachtung der Skizzen und Notizen, die uns Schickard hinterließ:
Federung/Rastereinstellung
Offenbar verwendete Schickard zur Einstellung einen Metallstift, auch auf dem Foto der tübinger Replica ist er abgebildet (5). Allerdings ist dort nur das Loch der Null ganz durchbohrt, damit dient der Stift bei der Replica eher zur Orientierung. Dies ist vermutlich ein Irrtum. Der Stift sollte bei jedem Loch durchgesteckt werden können. Zum einen weist dann seine Spitze auf die Zahl, die auf der vorderen Abdeckung eingeprägt oder aufgemalt ist. Zum anderen ist es nicht unwahrscheinlich, dass Schickard bereits einen Anschlag vorsah, und auch hierzu muss der Stift für jede Ziffer durchgesteckt werden.
Zwei der mir bekannten Replicas haben dies weiterentwickelt, hier gibt es eine aufsteckbare Walze, die die Drehkraft der Einstellräder natürlich verbessert, eine französische Replica verwendet ausdrücklich einen Anschlag.
Das eigentlich kritische Thema im Zusammenhang mit der Einstellung ist die Rasterfederung, die einerseits notwendig erscheint. Andererseits addiert sich der zur Überwindung des Federwiderstands erforderliche Kraftaufwand, dieser steigt also von 9 + 1 über 99 + 1, 999 + 1, 9999 + 1 usw., proportional mit Anzahl der Stellen. Der Grund ist, dass der Zehnerübertrag bei dem schickard'schen Prinzip - wie bei allen späteren Scheibenaddierern, die auf diesem Prinzip beruhen -, über alle Stellen simultan und nicht seriell erfolgt.
Schickard erwähnt keine Rastersperren der Zahnräder und auch kein Kraftproblem bei mehrfachem Zehnerübertrag. Er schreibt an seinen Mechaniker:
"Deßwegen die zahlen also auffzuschreiben:
1. fang zu der Rechten am scheiblen 1 an, treibs dextrorsum, wo es anfangt angreifen schreib oben 9. Danach sinistrorsum, wo es anfangt zu bewegen, schreib oben 0, das vbrig gibt sich selbs.
2. weil aber die zän vnfleißig, so mach erstlich heimbliche puncten. Endlich nimm das mittel zwischen zweyen."
Das liest sich so, als würden die Zahnräder nicht stets auf denselben Punkt "springen", also nicht von einer Rasterung geführt werden. Auch bei "unfleissigen", also ungenauen Zahnrädern ergibt sich immer der gleiche Punkt der Einstellachse, wenn die Feder in einen Zwischenraum greift, weshalb also "zwey heimbliche puncten"? An gleicher Stelle schreibt er, dass er 20er statt 10er Zahnräder besser fände. Was würde das für eine Rasterung bedeuten? Sie wäre zwar genauer, jedoch fehleranfälliger für das Überschleudern und notwendigerweise schwergängiger, und man könne die Einstellung akustisch nicht mehr kontrollieren.
Alle Beschreibungen von Replicas betonen die entscheidende Bedeutung dieser Federn, entscheidend sowohl für die exakte Positionierung als auch für den Zehnerübertrag. Wenn dies auch unstrittig erscheint, Schickards Anweisungen und Beschreibungen geben keinen Hinweis hierauf.
Präzision
Schickards Kritik an den ungleichen und "unfleissigen" Zahnrädern läßt auf Fertigungsungenauigkeiten schließen. Die tübinger Replica ist jedoch eher ein High-Tech-Werk, mit sehr präzise gefertigten Zahnrädern, was vor allem für den sehr kritischen Zehnerübertrag notwendig ist. Wolfgang Blümich, ein bekannter Sammler und erfolgreicher Schickard-Nachbauer schrieb mir, dass er beim Zehnerübertrag mit einer Genauigkeit im Bereich von Zehntelmillimetern gearbeitet habe. Nun hat er recht kleine Zahnräder benutzt (19 mm Durchmesser), aber dennoch: Selbst bei größeren Zahnrädern ist hohe Präzision gefordert, falls man der "tübinger Lösung" mit abgefeilten Zahnrädern folgt.
Hier einige Abbildungen, eine Skizze für den Übertragungsweg und Fotos des Rechenwerkes (Foto 2 ist übrigens in der Quelle seitenverkehrt gedruckt, hier zeige ich die horizontal gespiegelte und somit richtige Abbildung!).
Der schraffierte "Einzahn" C auf der Zeichnung 1 oben rechts bewegt das untere, präzise abgefeilte Zahnrad B um eine Stelle weiter. Auf Foto 3 ist dieses teilweise abgefeilte Rad zu erkennen. Abbildung 4 zeigt der Übertragungsweg etwas detaillierter, hier sind die Teile der Übersicht halber auseinandergezogen. Nach diesem Weiterzählen des linken Zahnrades um eine Stelle darf, was das eigentlich Kritische ist, das abgeschliffene Zahnrad B den Einzahn C durch eigene Drehung nicht mehr erreichen. Der Zehnerübertrag über den Einzahn darf also nur nach links, nicht aber nach rechts wirken. Die geforderte Genauigkeit in der Achslagerung, in den Zahnlängen und der Federung ist so hoch, dass die Frage entsteht, ob Schickards Mechaniker dadurch nicht überfordert war. Man vergleiche mit Schickards kritischen Notizen.
Oben habe ich schon angemerkt, dass die Federung, zweifellos ein zentraler und ebenfalls kritischer Punkt aller Replicas, von Schickard in keiner Weise erwähnt wird. Der kurze Einzahn C muss, nachdem er den Zehnerübertrag erledigt hat, aus dem Bereich des Zahnrades B herausgenommen werden. Und gleichzeitig muss sich das Zahnrad B ein kleines Stück weiterbewegen, damit der Einzahn erneut eingreifen kann, um in die andere Drehrichtung zu wirken. Anderfalls haken sich Zahnrad und Einzahn unweigerlich fest.
Links der Zustand, in dem Rad C, nach seinem Transport des Rades B um eine Stelle, dieses verlässt. Dreht sich jetzt B nach links oder C nach rechts, können sie sich leicht an den Spitzen verhaken. Es muss der Zustand auf der rechten Abbildung erreicht werden, bei dem beide Räder deutlich getrennt sind: B muss sich ein kleines Stück weiter drehen, ebenso wie C. Damit das zuverlässig geschieht, ist eine Rasterung erforderlich. Dies zeigen alle Versuche, die ich selbst angestellt habe, auch die tübinger Lösung und andere Replica, die ich kenne, legen großen Wert auf die präzise Rasterung.
Um es zu wiederholen: Schickard erwähnt dieses zentrale Problem mit keiner Silbe oder Zeichnung. Hatte er eine andere Lösung dafür?
Auf den Einzahn gehe ich weiter unten nochmals ein.
Ergonomie
Keine der Replica scheint die leicht nach hinten geneigte Lage des Multiplikationswerkes zu beachten, wie sie Schickards spätere Skizze zeigt, ebenso wenig wie die deutlich tiefere Basis. Vor allem die Neigung erscheint ergonomisch ratsam, denn bei allen Replicas (wie auch bei Schickards erster Skizze) muss der Rechnende ständig die Kopfneigung verändern, von den Napier-Walzen (Schaulöcher von (2)) zum Additionswerk (6). Diese Zahlenreihen stehen im rechten Winkel zueinander und sind zudem durch die Schaulöcher etwas verdeckt.
Design
Die seitlichen, halbrunden Vorsprünge, die Schickard erst bei seiner späteren Skizze zeichnete, wirken bei seinen sonst schmucklosen und fast minimalistischen Skizzen seltsam deplatziert. Manches hat er offensichtlich hastig gezeichnet, wie zum Beispiel die Reihen der Schieber, weshalb also diese barocken Bögen? Die meisten Replicas haben dieses Element übernommen, aber ist es nur Dekoration? Es fällt einem kein Verwendungszweck ein, außer vielleicht einer Merkhilfe für die Nummerierung der Schieber, die ja auf Schickards Skizzen keine Zahlen tragen. Keine der Replica hat übrigens die Enden der Schieber als eher spitze Stangen ausgeführt, wie sie Schickard auf der zweiten Zeichnung andeutet. Ansonsten sind die Replica detailtreu, bis hin zu der Ausführung der Drehknöpfe für die Napier-Walzen und das Speicherwerk. Lediglich die sehr geschmackvoll ausgeführte Replica von Freddy Haeghens (erstes Bild der Fotoserie unten) gestattet sich gestalterische Freiheit, was die Drehknöpfe und die Schaulöcher betrifft.
Überlauf?
Schickard erwähnt 11 Zahnräder und 6 verstümmelte, wobei von letzteren nur 5 erforderlich wären. Man schlußfolgerte, um dieses 6. Zahnrad unterbringen zu können, den Einbau einer Glocke für das Anzeigen des Überlaufs. So ehrenhaft das für Schickards Erfindungsgeist ist, so ist dennoch nicht auszuschließen, dass hier eine neuzeitliche Erfindung hineininterpretiert wurde, nur um eine Zahlenangabe zu stützen. Ebenso möglich wäre es, dass Schickard nur 11 Zahnräder für den Übertragungsweg zählte. Fünf davon tragen einen Stift für den Zehnerübertrag. Die 6 wie auch immer "verstümmelten" Zahnräder sind vielleicht ganz separate eingebaut, um eine Rasterung durch Federn oder Gewichte zu bewerkstelligen. Den Einzahn als "verstümmelt" zu bezeichnen, ist eine gewagte Interpretation. Niemand würde ein reguläres Zahnrad von Hand ausgesägen, um es gleich darauf auf einen Zahn zu reduzieren, zu "verstümmeln".
Der Einzahn
Die Randnotiz aus einem Brief an Kepler zeigt drei Zahnräder, die in rechtem Winkel zueinander stehen. Das untere (Zwischenrad) zeigt einenaufgesetzten Stift oder Zahn. Sollte das der von Schickard erwähnte Einzahn sein, dann ist er auf einem Zwischenrad befestigt und nicht, wie in der tübinger Lösung, auf einer Einstellachse - allerdings spielt das für die Technik des Zehnerübertrags keine Rolle. Wichtiger ist bei dieser Skizze, dass für den Übertragungsweg kein "verstümmeltes" Zahnrad notwendig ist. Der Einzahn ragt über den Durchmesser des Zahnrades hinaus, was sich auf die Achsabstände auswirkt und die Übertragungsgenauigkeit erhöht. Hier ist ein wichtiger Hinweis zu sehen, weshalb die tübinger Anordnung korrigiert werden könnte.
Eine bereits zitierte Notiz von Schickard gibt zu denken: " ... Die einzehte zän sollen nit in die mitt zwischen zween andere: sonder just auff ain ordinarj zahn kommen, denn sonsten treibt es zweymal an einer ziffer..." Diese Notiz ist bei genauer Überlegung unverständlich, wenn man die tübinger Lösung anschaut. Bei keiner Anordnung und Stellung des Einzahn kann es dazu kommen, dass eine Ziffer zwei Mal "getrieben" wird, denn bei nicht absolut korrekter Positionierung des Einzahn klemmen die Zahnräder sofort. Schickards Bemerkung macht nur bei einem langen Einzahn Sinn, nur hierbei kann es dazu kommen, dass um zwei Stellen weiter bewegt wird. Hierzu später ausführlich.
Ich will nicht spitzfindig erscheinen, sondern nur darauf hinweisen und später auch demonstrieren, dass eine vom tübinger Nachbau abweichende und vor allem einfachere Bauweise möglich ist. Am wichtigsten erscheint mir die Frage, ob der Zehnerübertrag der tübinger Lösung die damalige Präzision nicht überfordert. Man kann das Problem zwar durch große Bauteile verringern, aber ich vermute, dass die tübinger Replica nun doch zu groß geraten ist.
Außerdem gibt es in Schickards Notizen und Zeichnungen keinerlei Hinweise auf einen separaten Einzahn, der auf der Achse montiert ist oder dicke Zahnräder, deren eine Hälfte verkürzte Zähne aufweist. Betrachten wir Zeichnungen mechanischer Werke von damals (z.B. von der Pascaline oder der Hahn'schen Maschine), so fallen die hohe Detailgenauigkeit und aufwendige, barocke Stilfreudigkeit auf. Schickards Skizzen sind von daher gesehen eher karg - leider. Da die originalen Bauzeichnungen fehlen, ist man stets auf Schlußfolgerungen angewiesen und gezwungen, Details zu ergänzen.
Hier sind Detailbilder eines großen Funktionsmodells aus dem Museum Paderborn, aufgenommen von Wolf Blümich (Dank für die Fotos!):
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