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Copyright Detlev Bölter

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Teil 5: Alternative Lösungen für den Bau des Rechenwerkes

Es mag ein rein akademisches Unterfangen sein, andere Möglichkeiten des Zehnerübertrags zu erkunden als die tübinger Lösung. Gemeint sind hier nicht jene räumliche Varianten im Übertragungsweg, wie ich sie zuvor gezeigt habe, sondern bautechnische Alternativen. Bedenken wir, dass die tübinger Lösung nicht widerspiegelt, wie Schickard wirklich hat bauen lassen, sondern dass sie nur auf Schlußfolgerungen beruht.

Die tübinger Lösung hat einige kritische Stellen: Schickard erwähnt nirgends abgefeilte Zahnräder, er hat sie ebenso wenig gezeichnet wie einen auf der Achse montierten Einzahn. Die Lösung erfordert zudem eine Präzision, wie sie damals sicher schwierig zu verwirklichen war, zumal Schickard bemängelt, dass nicht einmal die Zehnerzahnräder gleichmässig arbeiten. Mehr dazu auf Seite 3.

Ich habe einige Funktionsmodelle mit Zahnräder von 19 bis 25 mm Durchmesser gebaut (Danke an Daniel Verhoeven für eine Hand voll alter Zahnräder!) - je größer, desto weniger fehleranfällig ist die Konstruktion. Sie funktionieren alle ohne jene Zehntelmillimeter-Präzision, die die tübinger Lösung erfordert. Ich hatte mich von vorne herein in einem wichtigen Detail von der tübinger Lösung entfernt: Der Durchmesser des Einzahn ist in meinen Lösungen länger als der der übrigen Zahnräder. Dadurch entsteht wesentlich mehr Spielraum für den Zehnerübertrag, und selbst das Abfeilen der Zahnräder (wie es auf einigen Fotos zu sehen ist) kann entfallen.

Nun kann man die Länge des Einzahn frei wählen - je länger er ist, desto sicherer funktioniert der Zehnerübertrag. Bedingung für den Zehnerübertrag per Einzahn: Er muss nach links eine Drehung von 36° bewirken, darf aber anders herum vom links benachbarten Zahnrad nicht erreicht werden. Rechts ein nicht exakt maßstabsgetreues Schema:
Ein auf dem rechten Zahnrad montiert gedachter Einzahn (schwarze Pfeile) bewegt sich für den Zehnerübertrag im Winkel von 36°. Ist das linke Nachbarzahnrad direkt daneben (erste scharze Pfeilspitze), erfasst es bei eigener Drehung den Einzahn. Der rechte grüne Pfeil zeigt den Berührungspunkt. In der tübinger Lösung wurde das linke Nachbarzahnrad genau an dieser Stelle abgefeilt.
Das nächste linke Rad (zweite schwarze Pfeilspitze) ist bereits soweit entfernt, dass es vom Einzahn nach seiner 36°-Drehung verlassen wird. Wird der Einzahn noch länger gewählt (dritte schwarze Pfeilspitze), dann ist er nach seiner Eigendrehung vollständig außerhalb des linken Rades.

Dies ist nur eine schematische Darstellung. Falls Sie selbst konstruieren wollen, verwenden Sie einen möglichst langen Einzahn. Bei beidseitig aufgehängten Achsen ergibt sich die maximale Einzahnlänge aus dem Zahnraddurchmesser bzw. dem Modul des Rades und der Stärke der verwendeten Achsen. Die Einzahnlänge ist ab Achsmittelpunkt zu rechnen!

Maximale Einzahnlänge = 0,83 x Zahnraddurchmesser - halber Achsdurchmesser.

Kennen Sie den Modul des Zahnrades, lautet die etwas genauere Formel:

Maximale Einzahnlänge = m · 10 - halber Achsdurchmesser.


Dabei müssen Sie die Zahnspitzen des Zahnrades ev. noch leicht abschleifen, aber es eignet sich dennoch als normales Transportzahnrad für die weitere Übertragung nach links. Wählen Sie eine längeren Einzahn, wird der Übertrag völlig problemlos. Allerdings können Sie dann nur die Lösungen 1 oder 4 (siehe unten) bauen.


Schematische Übertragungswege

Es folgen einige schematische Abbildungen von alternativen Übertragungswegen - alternativ zur tübinger Lösung.



(1)

Lineare Lösung mit langen Einzähnen.

Dies war mein Beginn. Ich habe zunächst versucht, die Achsen frei enden zu lassen.

Ein abgefeiltes Rad vom Typ B ist nicht mehr erforderlich. Man denke sich die Einstellwalzen unterhalb der gelben Seitenwand auf der Verlängerung der Einstellachsen 1 bis 6. Der Einzahn vom Typ C kann unterschiedlich aussehen.






Erste Testversuche. Die Zahnräder dieser Fotos haben einen Durchmesser von 19 mm



Für ein vollständiges Addierwerk mit sechs Stellen werden 11 Zahnräder (A) benötigt. Fünf (oder - mit Überlaufglocke - sechs) davon tragen einen Stift oder Einzahn, den man schwerlich als "verstümmeltes" Zahnrad bezeichnen kann.

Der hälftig abgefeilte Zahnkranz (Typ B) wird nicht benötigt. Die hier gezeigte Lösung hat unbestreitbare Vorteile: Sie ist einfacher, da auf den Typ B verzichtet werden kann, und sie erfordert weniger Präzision. Allerdings befriedigt der stufenweise Aufbau nicht ganz, da er ziemlich lange Achsen erfordert.


Die Frage war nun, ob sich der Einzahn soweit verkürzen lässt, dass er die rechte Nachbarachse nicht berührt und demnach abwechselnd oben und unten angeordnet werden kann. Das Resultat sehen Sie als Lösung (2). Ich habe die Zahnradspitzen etwas abgefeilt, jedoch nur so weit, dass die Räder immer noch ganz normal übertragen. Der schematische Aufbau und die Fotos:




(2)

Lösung mit leicht verkürztem Einzahn

Der etwas abgefeilte Typ A wird hier mit A' bezeichnet. Benötigt wird er nicht, d.h., man kann A' auch durch die Räder A ersetzt denken, wenn man die dadurch notwendige Präzision berücksichtigt. So wie abgebildet wird das Hakeln und Blockieren allerdings sicherer vermieden.
Wichtig ist, dass mit dem abgefeilten Typ A' nicht der tübinger Typ B gemeint ist. Typ A' ist nämlich kein Hilfszahnrad, sondern ist als normales Übertragungszahnrad geeignet.





Weitere Tests. Bei Abb. 1 - 3 wurden Zahnräder mit 25 mm Durchmesser verwendet, auf Foto 4 wieder 19 mm. Alle Modelle funktionieren.


Abb. 1: Anordnung linear, Aufsicht (25 mm Ø)

Abb. 2: Anordnung versetzt, Aufsicht (25 mm Ø)


Abb. 3: Anordnung linear, Seitensicht (25 mm Ø)

Abb. 4: Anordnung linear, Aufsicht (19 mm Ø)


Wir entsprechen auch mit der Lösung 2 genau Schickards Zahlenabgabe. Schickard beschreibt die Zwischenräder als "ganz ähnlich", also bestand der Unterschied vielleicht im leichten Abfeilen der Spitzen der Zwischenräder.


Was mir wichtig war: In den Lösungen 1 und 2 (und allen folgenden) werden die Zahnräder vom Typ B (bzw. speziell bearbeitete dicke Zahnräder, die den Übertragungstyp A und B kombinieren) nicht benötigt. Wir sind Schickards Zeichnungen und Beschreibungen näher gerückt, und bautechnisch sparen wir - im Vergleich mit der tübinger Replica - zwei ganze Übertragungsebenen. Die hier vorgestellte Lösung hat also den unbestreitbaren Vorteil größerer Einfachheit und Robustheit.


(3) Bautechnisch einfachste Lösung:

Man könnte in Schickards Zeichnung sogar die Darstellung eines Mitnehmerstiftes C hinein interpretieren, der in die Stirnseite der Walze eingesetzt ist (kleiner weißer Kreis). Dann könnte das Rechenwerk schematisch so oder so ähnlich ausgesehen haben, und das ist gleichzeitig die einfachste denkbare Lösung:

Ich habe jetzt die Walze mit den Resultatzahlen (grau) mit eingezeichnet. Darauf wird ein Stift aufgesetzt. Es ist jedoch fraglich, ob die Walzen, falls sie aus Holz waren, als Übertragungsteile genutzt wurden - vielleicht bestanden sie ja auch aus Metall. Es gibt hierbei einen maximalen Radius des Einzahns bzw. der Walze, denn irgendwann stößt sie gegen die rechts benachbarte Zwischenachse. Meinen Zeichnungen und Messungen zufolge wäre zwar ausreichend Platz, wenn man die Zahnradspitzen etwas abschleift (siehe Lösung 2). Doch der verbleibende Spielraum von etwa 0,5 mm erscheint mir für damalige Verhältnisse zu gering.


Diese Lösung kann natürlich mit einem separaten Einzahn C gefertigt werden, der auf der Einstellachse montiert wird. Als gekürztes Schema:




(4)

Die nächste Lösung weicht nur um eine Kleinigkeit ab, aber diese Kleinigkeit ist wichtig. Es ist ja nicht notwendig, die Zwischenachse beidseitig aufzuhängen. Man kann dann den Einzahn länger und den Durchmesser der Walze größer wählen. Die "offene" Achse wird fest montiert, so dass sich das Zwischenrad A darauf frei dreht. Der Vorteil: Der lange Einzahn C wird mit einer 36°-Drehung ohne Platznot wieder aus dem Einflußbereich des Zwischenzahnrads A herausgeführt. Man kann also diese Lösung ohne Schwierigkeiten auch mit 19 mm - Zahnrädern bauen!

Erkennbar ist, dass die Ziffernräder und damit die Einzähne etwas mehr als doppelt so groß sein dürfen wie die Zahnräder. Doch wie schon erwähnt - probieren Sie es mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Zahnradgrößen aus!


Wenn man sich den Einzahn C sparen möchte, kann man auch bei dieser Lösung, in Abwandlung von Lösung (3), einen Stift auf die Walze setzen. Man muss nur dafür sorgen, dass er das Zwischenrad vom Typ A zuverlässig in exaktem Abstand erreicht. Ein Feinmechaniker würde die Walze also nicht aus Holz fertigen oder zumindest auf das Holz eine Metallscheibe aufsetzen. Als verkürztes Schema:



Es wäre in Lösung (4) sogar möglich, den Einzahn so lang zu fertigen, dass er zwei Stellen bewegen kann, ich habe es ausprobiert. Damit würden wir Schickards Korrekturanweisung für seinen Mechaniker erklären können. Wenn man ein "ganz ähnliches" Rad verwenden will, kann man die Zwischenzahnräder Typ A etwas anfeilen, damit verringert man die Gefahr des Hakelns weiter.

Die einzige Differenz könnte zu Schickards Randzeichnung mit den drei Zahnrädern gesehen werden - falls man darin eine versetzte 90°-Anordung der Zahnräder erkennen möchte. Die Lösung (4), die ich als Modell vorstellen werde, ist linear. Sie wäre auch mit 90° versetzt zu bauen, wenn man das Zwischenzahnrad etwas abfeilt. Die versetzte Anordnung begrenzt ja den Radius von Einzahn und Walze. Man vergleiche mit dem Foto rechts oben bei Lösung (2). Diese Variante wäre optimal, ich habe sie nicht gewählt, weil das Addierwerk mit meinen 25 mm - Zahnrädern zu schmal ausgefallen wäre.




Schlussfolgerungen (vor dem Eigenbau):

Man ist ja stets in die eigenen Lösungen verliebt, aber ich denke, ich habe einige Argumente aufgeführt, dass Schickards Addierwerk nicht so aussah, wie es in Tübingen nachgebaut wurde. Das Wichtigste und Folgenreichste dabei ist - selbst wenn es nur als Kleinigkeit erscheint -, die Entscheidung, den Durchmesser des Einzahns größer zu wählen als den Durchmesser des Zehnerrads.

Ich denke, es wird sich nicht klären lassen, wie Schickards Rechenwerk nun tatsächlich aussah und ob es problemlos funktionierte. Hierzu bleiben Bedenken. Eine Rechenmaschine, die so gut funktionierte wie der tübinger Nachbau, wäre damals sicher eine Sensation gewesen, Schickard hätte sie ständig benutzt, und sie hätte im Kollegenkreis (Schickard war auch Ordinarius für Mathematik in Tübingen) für Aufsehen und Nachbauten gesorgt, ähnlich wie es später mit der Pascaline oder der Hahn'schen Maschine geschah. Die Annahme, Schickard habe das Interesse verloren, finde ich nicht sehr schlüssig. Vielleicht war die Maschine zu fehleranfällig für die Alltagspraxis, vielleicht war sie vom Multiplikationswerk her nur für astronomische Berechnungen vorgesehen.

Die Einstellungen und Resultate sind denkbar schlecht abzulesen, vor allem mußte man zum Ablesen des Addierwerkes den Blickwinkel um 90° verändern. Die Einstellscheiben waren auf allen 10 Positionen mit Löchern versehen. Der Stift wurde zur Addition auf das Loch über der Null gesteckt und man drehte, bis die hinten herausragende Spitze auf die zu addierende Ziffer auf der vorderen Deckplatte wies. Bei Subtraktion verfuhr man umgekehrt - hier wäre eine Anschlag bei der Null hilfreich, und vielleicht gab es in auch. Manche Replicas verwenden ihn.
Wollte man die Einstellung nur mit dem Auge kontrollieren, konnte man die Resultatwalzen nicht sehen und musste ständig den Kopf bewegen, ebenso wie beim Abwechseln zwischen Napier-Stäben und Resultatwerk. Es handelte sich natürlich um den Prototyp, und Schickard ging es zunächst um das Funktionieren und weniger um die Ergonomie. Sicher hätte er ein bis zwei Modelle später die Resultatwerkswalzen in um 90° gedrehte Scheiben umgewandelt, die auf einer Ableseebene mit den Stäben und den Einstellscheiben liegen. Pascal z.B. hat das von Beginn an so konstruiert.

Verwendet man keine Rasterung, muss man nach jedem Zehnerrübertrag die Zahlen ein winziges Stück nachstellen, was zu Fehlern und Hakeln führen kann. Hatte Johann Pfister so präzise wirkenden Federstahl zur Verfügung, dass der Zehnerübertrag über mehrere Stellen gelingen konnte? Selbst bei den heutigen Schickard-Nachbauten wird darüber geklagt, dass der Übertrag über 5 Stellen oft nicht möglich ist. Pascal verwendete statt Federn von oben einrastende Gewichte, die fein justierbar sind, aber auch sein Zehnerübertrag war fehleranfällig. Auf alten Konstruktionszeichnungen habe ich auch schon an einer Schnur befestigte Gewichte gesehen (Maschine von Poleni, Martin S. 46). Die Schnur wurde auf die Achse gewickelt, das Gewicht bewirkte einen konstanten Zug, der die Zahnräder in einer bestimmten Position hielt. Allerdings ist eine derartige Rasterung nur dann sinnvoll, wenn es nur eine Drehrichtung gibt.
Die Frage bleibt für mich ungelöst.

Was Schickards Mengenangabe (11 normale und 6 verstümmelte Zahnräder) betrifft, so bleiben Unsicherheiten: Hat Schickard tatsächlich bereits eine Überlaufglocke eingebaut? Hat er mit den 6 verstümmelten Zahnrädern vielleicht besonders zugefeilte und ganz separate Zahnräder für die Rasterfederung oder für gleitende Gewichte gemeint? Davon hätte man nämlich sechs gebraucht. Ich bleibe dabei, dass die tübinger Annahme, mit "verstümmelt" sei der Einzahn gemeint und mit "ganz ähnlich" die (von den Tübingern nun wirklich verstümmelten) Zahnräder vom Typ B, kritisch zu sehen ist. Aber betreiben wir keine Haarspalterei:

Wir sollten nämlich unterscheiden:
Schickard hat als erster den Zehnerübertrag per Zahnrad und Einzahn gesehen und in seiner einzigen gebauten Maschine mehr oder weniger perfekt verwirklicht. Er hat zumindest das Prinzip beschrieben, und ihm gebührt demnach die Ehre, der Erfinder des Zehnerübertrags per dekadischem Zahnrad und damit der mechanischen Rechenmaschine zu sein, unabhängig davon, wie und ob sie im Detail verwirklicht wurde. Schließlich wurde noch Jahrhunderte später an unterschiedlichen Lösungen gearbeitet. Er hat die Möglichkeit gesehen und die Technik dazu im Prinzip beschrieben. Was den tübinger Nachbau anbetrifft, so muss dieser die Fähigkeiten Schickards ebenso wenig beweisen wie der heutige Bau von Panzern oder Flugzeugen das Genie Leonardo da Vincis beweisen muss.

Was erfreut: Falls wir eine "Schickard" nachbauen wollen, dürfen wir aus mehreren Möglichkeiten auswählen und müssen uns nicht an die tübinger Lösung klammern. Ich habe jedenfalls ein Additionswerk nach meinen zuletzt beschriebenen Lösungen gebaut - und stelle es auf der nächsten Seite vor! Es ist deutlich anders konstruiert als die tübinger Lösung - und erst als ich es fertig hatte, fiel mir jene Lösung ein, die Schickards Texten und Zeichnungen am nächsten kommt!